Schotten (red). Literarisch-musikalische Abende in Zusammenarbeit mit „Demokratie leben!“ sind herbstliche Traditionsveranstaltungen beim Vogelsberger Kultur- und Geschichtsverein. Immer Überraschungen: was würde der angekündigte deutsch-französische Abend bringen? Und welche Rolle spielte die Sängerin Katharina Pipp, die stilecht mit kess aufgesetzter Baskenmütze und gestreiften, extra hohen Stilettos gekommen war?
Auch diesmal konnte die Vorsitzende Dr. Jutta Kneißel so viele Zuhörende begrüßen, dass der Saal des Historischen Rathauses gerade ausreichte. Wieder gab es eine nachdenkliche Einführung, einen Rückblick auf mehrere Jahrhunderte der Feindseligkeit zwischen den beiden Nachbarländern. Vorurteile, Interessengegensätze, Grenzstreitigkeiten liefen bis zu kriegerischen Auseinandersetzungen auf. An diesem Abend ging es nicht um die Politiker, die sich um Aussöhnung bemühten, sondern um „Brückenbauer“, die die beiden Länder in einem künstlerischen Dialog auf Augenhöhe brachten. Sylvia Knoth und Elfriede Maresch, die beiden Sprecherinnen, verwiesen auf das Skizzenhafte ihrer Kurzbiografien, die nicht mehr sein konnten als Neugierigmacher, vielleicht aber im Publikum die Lust weckten, sich ausführlicher mit Heinrich Heine, Edith Piaf, Albert Camus und Romy Schneider zu beschäftigen.
Thomas Appel, Pianist, Musikpädagoge und Ensembleleiter, wie auch Katharina Pipp, die Gesang mit dem Schwerpunkt Musical studiert hatte, brachten Heines „Loreley“ so schmelzend wie ironisch. Mühsam aber war die Suche des jungen Heine nach beruflicher und sozialer Identität. Als Jude waren ihm viele Möglichkeiten verschlossen, vor allem in der repressiven Epoche der Karlsbader Beschlüsse. Der Umzug in das weit freiere Klima Frankreichs, die informativen Publikationen, die den Franzosen Deutschland, den Deutschen Frankreich näher brachten, Heines Liebe zur temperamentvollen Mathilde („Mein Hausvulkan“), sein Interesse an sozialreformerischen und demokratischen Bestrebungen, die elenden Krankheitsjahre in der Matratzengruft – ein faszinierendes Porträt entstand. Gesteigert wurde das noch durch Appels musikalische Collage zum Gedicht „Die schlesischen Weber“. Es war ganz still im Raum, der hoffnungslose eruptive Zorn der Ausgebeuteten schien zum Greifen nahe.
In sympathisch-lockerem Erzählton wusste Sylvia Knoth das Leben Edith Piafs mit Tiefen und Höhen zu schildern. Mitreißend brachten Pipp und Appel eingangs das Chanson „Milord“, das Publikum konnte gar nicht anders als mitzuklatschen. Piafs Kindheit unterwegs mit einem Wanderzirkus, ihre Jugend als Straßensängerin in einem Milieu von Gewalt und Alkoholismus, langsame Anerkennung als Sängerin, wechselnde Liebhaber, von denen einer sie „anstrengender als eine Tour de France-Etappe“ fand, Freundschaften mit Jean Cocteau, Marlene Dietrich, Georges Moustaki, Krankheit und Tod. Als Hunderttausende Piafs Sarg folgten, war aus dem vernachlässigten Kind der „Spatz von Paris“ mit seinen weltberühmten Chanson-Interpretationen geworden.
„Sous le ciel de Paris“ – aus den Pausengesprächen holte das Duo Appel-Pipp mit unwiderstehlicher Musette-Musik zurück. Albert Camus, Schriftsteller und Philosoph, hier geschildert von Sylvia Knoth, war für die desillusionierte deutsche Jugend angesichts der Trümmerfelder des Dritten Reiches eine wichtige Gegenstimme. In seiner Aussage von der Absurdität menschlicher Existenz erkannten sie ihre eigene, desolate Situation wieder. Nach dem „Menschen in der Revolte“ brachte Camus dann im Roman „Die Pest“ das berührende Plädoyer für Liebe und Solidarität. Dennoch vermied es Knoth, ihn zu idealisieren, erwähnte seine häufigen Affären ebenso wie seine Abneigung gegen totalitäre Systeme, seien sie nun vom rechten wie vom linken Spektrum.
„Ich will ganz französisch sein in der Art, wie ich lebe, liebe, schlafe und mich anziehe“ – erstaunlich mutet die Aussage der zwanzigjährigen Romy Schneider an, die noch vor kurzer Zeit in der Sissy-Rolle ein Lieblingsstar der Deutschen war. Maresch zeichnete die Brüche und Widersprüche im Leben der Schauspielerin auf. Ohne einen einzigen Tag Schauspielunterricht überzeugte sie vor den Filmkameras, kam selbst mit extrem fordernden Regisseuren wie Luchino Visconti zurecht. Berufliche Größe und privates Unglück: sie war den Unterwelt-mit Schickeria-Gewohnheiten ihres Geliebten Alain Delon ebenso wenig gewachsen wie der Kehrtwende „anschmiegsame kleine Frau mit intellektuell brillantem Mann“ bei Harry Meyen. Der neue Lover Biasini nutzte sie gnadenlos aus, ihr Sohn verunglückte auf grausame Weise. Romy glitt in Alkohol- und Tablettensucht – und überzeugte doch selbst bei ihrem letzten Film „Die Spaziergängerin von Sanssouci“. Noch einmal Appel und Pipp mit dem Gefühlsbad „Non, je ne regrette rien“ – dann blieb nur noch der stehende Beifall des Publikums.
Text: Kreis Anzeiger vom 7. Oktober 2023
Fotos: Maresch und Drinkuth