Geschichte der Wolgadeutschen mit Wurzeln im Vogelsberg (2018)

Irina Holstein berichtet über die Spurensuche nach ihrer Familie.

1763 suchte Katharina die Große Auswanderer in Deutschland, die bereit waren, unbewohnte und ungenutzte aber fruchtbare Landstriche in Russland zu besiedeln. Garantiert wurden die freie Religionsausübung sowie 30 Jahre Steuerfreiheit. Außerdem sollte das neu besiedelte Land als Gemeineigentum der neuen Kolonie gehören. In Deutschland herrschte nach Ende des Siebenjährigen Krieges wirtschaftliche Not und ein hoher Steuer- und Abgabendruck. Nachdem der Landgraf von Hessen der Auswanderung zugestimmt hatte, machte sich auch der 1736 in Geiß-Nidda geborene Andreas Pfaffenrod, ein Urahne von Irina Holstein, auf den beschwerlichen Weg nach Russland. Die Reise der in Kolonien zusammengeschlossenen Gruppe dauerte über zwei Jahre. Es ging bereits 1766 auf dem Landweg Richtung Ostsee los. Angekommen in Lübeck, mussten die Auswanderer monatelang auf  ein Schiff warten. Das erste Schiff, auf dem einige Personen der künftigen Siedlung Jagodnaja Poljana waren, legte am 8.8. 1766 in Travemünde ab. Sie kamen im Hafen von Kronstadt, unweit von Petersburg an. Dort wurden die Auswanderer von der Zarin persönlich begrüßt. Dann ging es weiter nach Saratov. Überwintert haben die Auswanderer in Petrosk. Im Frühjahr 1767 machten sie sich auf die Suche nach der neuen Bleibe. Sie fanden sie in Jagodnaja Poljana, in einem Gebiet, wo auf einer geschlossenen Landfläche 104 deutsche Siedlungen angelegt wurden, die nach Konfessionen streng getrennt waren.

Vor dieser Sammelstelle bei Büdingen emigrierten die Vogelsberger nach Russland

Die ersten Jahre waren äußerst mühsam. Man wohnte in Erdhäuschen und musste sich an das Klima und die landwirtschaftlichen Bedingungen gewöhnen. Doch bald ging es aufwärts und Jagodnaja Poljana wurde zu einer blühenden Siedlung mit einer Kirche, einer Schule und allen sonstigen erforderlichen Einrichtungen. Die Bewohner kamen zu einem gewissen Wohlstand.

1927 kam Stalin an die Macht und damit veränderte sich auch das Leben der Russland-Deutschen. 1928, mit Beginn der Zwangskollektivierung der selbständigen Bauern, verbunden mit der restlosen Enteignung der wohlhabenden Bauern und der großen Hungersnot (1933), eine Folge der überstürzten Kollektivierung, begann auch das große Leid der Familie Pfaffenroth. Von 1933 bis 1936 waren sie auf der Flucht und lebten in Tscheboksary. Kaum zurückgekehrt wurde Opa Pfaffenroth im Oktober 1937 verhaftet (mit ihm zusammen zwei weitere Pfaffenroths und ein Weitz) und wie die Familie erst im Oktober 1989 erfuhr, kurz darauf erschossen. Wie viele andere traf sie der Höhepunkt des stalinistischen Terrors: im Schnellverfahren wurden angebliche Volksfeinde, Geistliche und Bauern, darunter auch viele Deutsche, von so genannten Troikas abgeurteilt und anschließend ermordet.

Mit Beginn des 2. Weltkriegs musste der ganze Ernteertrag der Kolchosen abgeliefert werden. Die Familien konnten deshalb nicht entlohnt werden und lebten von den eigenen Nutzgärten und dem privaten Vieh. Ganz schlimm wurde es 1941. Die hysterische Angst vor Spionage nach dem Angriff Hitler-Deutschlands am 22. Juni 1941 führte zur Umsiedlung der Wolga-Deutschen nach Kasachstan. Der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28.08.1941 über die Aussiedlung der Deutschen aus der Wolgaregion traf dann alle. Innerhalb von 48 Stunden mussten sie das Nötigste packen und für den Abtransport bereit sein. Haus, Hof, Vieh, alles blieb zurück. Vom 7.9.1941 bis 18.9.1941 war die Familie Holstein/Pfaffenroth im Zug Nr. 785 unterwegs nach Kasachstan. Allein in diesem Zug waren 2403 Personen. Sie kamen in eine öde Steppe ohne Baum und Strauch und nur für Viehwirtschaft geeignet. Wieder begann man ganz von vorne und das unter erschwerten Bedingungen, da viele der arbeitsfähigen Männer und Frauen zur Zwangsarbeit im russischen Kernland eingezogen wurden. Dennoch gelangte die Gemeinde dank harter Arbeit erneut zu einem gewissen Wohlstand, wobei sie viel Trost in ihrem Glauben fanden. Zunächst lebte die Familie im Dorf „Zwei“, später „Fedotowka“. Bis 1960 hoffte die Familie noch nach Jagodnaja Poljana zurückzukehren. Als daraus nichts wurde, bauten sie im benachbarten Dorf „Drei“, später „Lugansk“ ein Haus und zogen um. Da lebten sie dann auch bis 1992. Irina Holstein, geboren 1955 in Fedotowka wurde Mathematiklehrerin und hatte viel Freude an ihrem Beruf.

Aber auch in der Sowjetunion gab es keine Gleichstellung der deutschen Minderheit. Vor allem gab es keine Wiedergutmachung für die enteigneten Häuser und den sonstigen Besitz in dem alten Siedlungsgebiet Jagodnaja Poljana. Deshalb entschloss sich auch die Familie von Irina Holstein 1992 zur Umsiedlung in die Bundesrepublik. Wieder dauerte die Reise fast zwei Jahre bevor sie in Neustadt an der Weinstraße eine neue Heimat fand. Von da aus machte sie sich auf die Suche nach ihren Vorfahren.

Die Veranstaltung wurde vom Projekt „Demokratie leben“ gefördert.