Lyrik von Nȃzim Hikmet und Sait Faik
– Eine kleine Auswahl der Literatur des 20. Jahrhunderts, vertreten bei dieser Lesung durch Nazim Hikmet (1902 – 1963) – er gehört heute zur Weltliteratur – und Sait Faik (1906 – 1954) zeigt ein Zeitfenster der Türkei und vermittelt eine gesellschaftliche wie politische Aussage. Zeigt vor allem auch ein Lebensumfeld dieser Autoren.
Lyrik von Nȃzim Hikmet
„Was für schöne Städte hat mein Anatolien am Mittelmeer. Sie sind klein, sonnig wie die Orange, glänzend wie ein quicklebendiger Fisch und bunt wie bitterer Rosenlorbeer.“
Kurz vor seinem Tod schrieb er:
„Wieviele Dichter mussten doch ihr Land verlassen, seitdem es die Lyrik gibt! Wie oft mussten ihre Herzen, die bis zur allerletzten Minute mit der Sehnsucht nach der Heimat schlugen, an fremden Orten begraben werden!“
Sait Faik: „Ein Lastkahn namens Leben“
Sait Faik ist der unerreichte Meister der urbanen, atmosphärisch dichten, leicht und spielerisch wirkenden türkischen Prosa. Wie in einem Kaleidoskop brechen sich die Geschichten und Gefühle, die heiteren und dunklen Tage seiner Gestalten.
Dies zeigt sein 1944 erschienener Roman „Ein Lastkahn namens Leben“ .
„Vielleicht ist man ausgerechnet in der Literatur wieder einmal dem Leben begegnet.“
(Die Wochenzeitschrift: Die Zeit, Hamburg)
Bericht im Kreis Anzeiger
Sehnsuchtsvoll und heimatverbunden
Schauspieler Edgar M. Böhlke liest im Heimatmuseum Schotten türkische Literatur
Schotten (em). »Zu Gast im Haus von Staatsrat Weber« ist einer der Themenschwerpunkte des Heimatmuseums Schotten, das vom Vogelsberger Kultur- und Geschichtsverein geführt wird. Gastlich war auch die Atmosphäre beim Abend »Leben einzeln und frei wie ein Baum« mit Lyrik und Prosa der türkischen Autoren Nazim Hikmet und Sait Faik.
Die beiden schönen Jugendstilräume im Wohnbereich waren gerade groß genug für die Interessierten aus der Region, die die Vorsitzende Dr. Jutta Kneißel begrüßen konnte. Vereinsmitglied Christel Schubert, durch langjährige Tätigkeit beim DIPA-Verlag mit moderner Literatur aus Nahost, aus asiatischen und afrikanischen Ländern vertraut, hatte die Lesung vorbereitet, und den Schauspieler Edgar M. Böhlke als Sprecher gewonnen.
Angesichts der Ausdrucksstärke von Hikmets und Faiks Texten sei die Entscheidung »Lesen oder Weglassen« schwer gewesen – man glaubte es Schubert und Böhlke aufs Wort. Böhlke, der in den Ensembles großer Regisseure ein Stück bundesrepublikanische Theatergeschichte mitgestaltete, hat sich bis heute die vitale Lust am (Wieder-)Begegnen mit Literatur bewahrt. Er beherrscht eine schwebende Balance zwischen Vorlesen und fast szenischer Gestaltung, die auch hier die Zuhörer faszinierte.
Christel Schubert hatte durch private Kontakte den 17-jährigen Ismayil Novruzzade als Musiker gefunden. Im aserbaidschanischen Baku geboren, hat er dort die kaukasische Tar mit elf Saiten spielen gelernt. Inzwischen lebt er mit Mutter und Schwester in Deutschland und besucht die Vogelsbergschule. Er spielte traditionelle aserbaidschanische Musik, rhythmisch, frei und in feiner Obertönigkeit, in tänzerisch bewegten, träumerischen oder melancholischen Nuancen.
Das griff zugleich ein biografisches Element auf: Hikmet, als Kommunist aus der Türkei verbannt, hielt sich gern in Aserbaidschan und anderen asiatischen Sowjetrepubliken mit Turksprachen auf, suchte dort die verlorene Heimat. Hikmet (1902-1963) nahm als Begründer der neuen türkischen Lyrik Einflüsse der Moderne auf und ist inzwischen neben dem Romancier Yasar Kemal einer der meistgelesenen Autoren der Türkei.
Drohende Todesstrafe
Er war Sohn einer privilegierten Familie, dennoch von sozialer Sensibilität, beeindruckt von der Aufbruchsstimmung der jungen Sowjetunion, wo er zeitweilig studierte. Die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Türkei bescherte ihm ein unruhiges Leben: lange Gefängnishaft, drohende Todesstrafe, Exil in der Sowjetunion, von wo aus er sich im Weltfriedensrat engagierte.
Wie viele andere europäische Intellektuelle setzte er sich erst nach der Geheimrede Chruschtschows und der Rehabilitierung der Opfer damit auseinander, was der stalinsche Terror mit dem Land seiner Hoffnungen gemacht hatte. Das Publikationsverbot in der Türkei galt selbst über Hikmets Tod hinaus bis 1965. Böhlke las in zwei Abschnitten Gedichte aus den Bänden »Die Luft ist schwer wie Blei« und »Reise ohne Wiederkehr«.
Es sind absolut welthaltige Gedichte: die Industrielandschaft der Erdölmetropole Baku und ihre Arbeiter werden anschaulich beschreiben, im Blick auf anatolische Küstenstädte (»sonnig wie die Orange, glänzend wie ein quicklebendiger Fisch«) wird zärtliche Heimatverbundenheit sichtbar.
Böhlkes Vortrag von Hikmets selbstironischem Gedicht »Autobiografie« (»mit 30 wollten sie mich hängen, mit 48 mir dem Friedenspreis geben, den ich auch bekam«) erinnerte an die dialektische Innensicht Bertolt Brechts.
Sait Faik (1906-1954) Begründer der modernen türkischen Kurzgeschichte, war ein Individualist, ein Beobachter insbesondere der Menschen in sozialen Grenzsituationen. Von den Sehnsüchten und Stolpersteinen im Leben kleiner Leute handelt sein Roman »Ein Lastkahn namens Leben«, aus dem Böhlke las. Schicksalsschläge, etwa eine Typhusepidemie, werden fast fatalistisch hingenommen. Es ist allenfalls ein Zipfel von »kleinem Glück«, den Faiks Helden erhaschen und wieder verlieren.
Schuberts sorgfältige Vorbereitung, das Saitenspiel Novruzzades, Böhlkes Stimme und Mimik in der Wohnzimmeratmosphäre des Museums machten diese Literatur farbig und zugänglich. Das Publikum dankte mit lebhaftem Applaus.
Quelle: Kreis Anzeiger vom 29. Februar 2024