Vier Frauen aus drei Jahrhunderten, unterschiedlich an Herkunftsmilieu, Persönlichkeit, Lebenszielen, standen im Mittelpunkt und wurden von Sylvia Knoth und Elfriede Maresch vorgestellt: Annette von Droste-Hülshoff, Lou Andreas-Salomé, Winifred Wagner und Sophie Scholl. Nur eines verband die vier Protagonistinnen: die Notwendigkeit, in einer Lebenskrise eine Entscheidung zu treffen. „Wind des Wechsels: Segel setzen oder Mauern bauen?“ war das Motto, gespiegelt in einem hinreißend gebotenen Lied. Es sang Katharina Pipp, am Klavier begleitet von Thomas Appel (beide Büdingen).
Denn Musik ist unverzichtbar, wenn der Vogelsberger Kultur- und Geschichtsverein zu solchen Veranstaltungen einlädt, die auch diesmal vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ unterstützt wurden. Über 50 Interessierte konnte die Vereinsvorsitzende Dr. Jutta Kneißel im Historischen Rathaus begrüßen.
Lyrik gilt manchen als verstaubt, überholt. Hier das gerade Gegenteil: Thomas Appel unterlegte mit einer eigenen Komposition das Droste-Gedicht „Der Knabe im Moor“, von Maresch gesprochen. So lautmalerisch war Appels Klangbild vom Weg des verängstigten Kindes zwischen realer Gefahr und dämonischen Vorstellungen, dass die Zuhörer Gänsehaut bekamen. Skizzenhaft zeichnete Maresch die Jugend der temperamentvollen, schlagfertigen Annette, die sich über Konventionen hinwegsetzt – und einen hohen Preis dafür bezahlt. In einer Intrige als „Gefallene“ hingestellt, die unbedingt „gebessert“ werden muss, wird sie tief gedemütigt. In der Besinnung auf ihre eigenen Talente – Musik, Naturbeobachtung und vor allem das Schreiben – findet sie zu einer neuen, stärkeren Identität, bekommt langsam Zugang zum Literaturmarkt. Ihre Naturgedichte und Balladen, ihre Novelle „Die Judenbuche“ haben einen festen Platz im Kanon deutscher Literatur.
Klug, anziehend und literarisch produktiv: die 1861 geborene Lou Andreas-Salomé war eine zu starke Persönlichkeit, um sich als „Muse berühmter Männer“ zufrieden zu geben. Sylvia Knoth schilderte ihren Lebenslauf und damit fast einen kleinen Abschnitt Geistesgeschichte der Jahrhundertwende. Zudem scheiterten Lous Beziehungen zu Nietzsche, Rilke und anderen langfristig an ihrem starken Unabhängigkeitsbedürfnis. Als Fünfzigjährige nur noch aus Erinnerungen leben? Um beim Titelbild des „Segelsetzens“ und Aufbrechens zu bleiben: Aus einem Treffen mit Sigmund Freud erwuchs eine langjährige produktive Freundschaft und für Lou eine neue Lebensaufgabe als Psychoanalytikerin.
Eine junge Witwe von 33 Jahren, die die Leitung der Bayreuther Festspiele samt ihrer finanziellen Schieflage und der Last ihrer Traditionen übernimmt? „Trotz allem eine patente Frau“ dachten viele Zuhörer bei Mareschs biografischer Skizze vom Leben der Winifred Wagner. Genauer gesagt nur beim ersten Teil, der Winifred als Organisatorin glanzvoller Festspiele zeigte, als Frau mit Gerechtigkeitsgefühl, die – obwohl überzeugte Nationalsozialistin – erfolgreich gegen die Verhaftung etlicher Regimegegner und „jüdisch Versippter“ anging und ihnen sogar die Flucht ins rettende Ausland ermöglichen konnte. Der zweite Teil der Skizze zeigte eine zunehmend altersstarre und unbelehrbare Hitler-Verehrerin. Selbst im wörtlichen Sinn wuchsen die Mauern zwischen ihr, ihren Söhnen, ja, der jungen demokratischen Bundesrepublik immer höher.
Wohl das berührendste Element des Abends war Sylvia Knoths Schilderung der Sophie Scholl und des Widerstandskreises der „Weißen Rose“. Sehr detailliert schilderte Knoth die behütete Kindheit des Mädchens in einer von tiefer Frömmigkeit geprägten Familie. Es gab auch Sophies burschikose Seite mit dem Spaß an den Abenteuerangeboten im Bund deutscher Mädel, wo sie die Aufgabe einer Scharführerin übernahm. Die Lektüre von Augustinus-Schriften weckte Sophies Identifikation mit dem christlichen Glauben, die Erfahrungen des Reichsarbeitsdienstes ihre Sensibilität gegenüber Repression und sozialen Spannungen. Vollends die Kriegsschilderungen von Bruder und Freunden weckten ihre Überzeugung, aktiv Widerstand leisten zu müssen und sich an den Aktionen der „Weißen Rose“ zu beteiligen. Beim Verteilen von Flugblättern wurde sie verhaftet und wegen Wehrkraftzersetzung und Vorbereitung zum Hochverrat mit anderen „Weiße Rose“-Mitgliedern hingerichtet. Sie war noch keine 22 Jahre alt.
Ein sehr gespannt lauschendes Publikum, der ausdrucksstarke Gesang Katharina Pipps, die in Wien Musical studiert hat, vertieft durch Appels Klavierbegleitung, dazu die lebendigen Skizzen von Knoth und Maresch – das alles machte den Abend zu einer faszinierenden Collage.
Die Pausen- und Nachgespräche waren lebhaft – es tat offensichtlich gut, wieder zusammen zu kommen, sich von einem kulturellen Angebot anregen zu lassen, vielleicht auch zum späteren Nachlesen.
Lebhafte Pausen- und Nachgespräche
Jutta Kneißel nutzte dies, um die vier Aktiven für eine vergleichbare Veranstaltung 2023 zu verpflichten.
Text Kreis Anzeiger vom 28. September 2022