Der 9. November: Schicksalstag der Deutschen (2024)

Mit 70 Interessierten fand die Veranstaltung des Vogelsberger Kultur- und Geschichtsvereins „Der 9. November. Die Deutschen und ihr Schicksalstag“ im Historischen Rathaus eine erfreuliche Resonanz. Dr. Jutta Kneißel, Wilhelm Lückel, Gabriele Wetzler und Michael Steig, Vorstände und Aktive des Vereins, skizzierten Wendepunkte der deutschen Geschichte, die sich an diesem Tag ereigneten. Etliche Besucher kamen direkt von der Gedenkstunde an der ehemaligen Schottener Synagoge (der KA berichtete).

Musik von Katharina Pipp (Gesang) und Thomas Appel (Klavier) aus den jeweiligen Epochen, auch Lyrik aus jener Zeit, gesprochen von Elli Maresch, verdichtete die Atmosphäre, ebenso historische Zeichnungen und Fotografien. Appel und Pipp sind bewährte musikalische Begleiter bei Veranstaltungen des Kultur- und Geschichtsvereins.

Katharina Pipp und Thomas Appel

In die Vorgeschichte der 1848-er Revolution, die repressive Atmosphäre der Karlsbader Beschlüsse, die wirtschaftlichen Krisen und die Zersplitterung vieler deutscher Kleinstaaten zwischen den großen Machtblöcken Preußen und Österreich führte Willi Lückel. Hoffnungsvoller März und deprimierender November – mit Bildern der Paulskirche, aber auch des prominenten Abgeordneten Robert Blum fokussierte Lückel die komplexen Revolutionsereignisse auf ein Ereignis, das eigentlich ein Justizmord war: die standrechtliche Erschießung Blums trotz seiner Immunität als Parlamentsabgeordneter, weil er in Wien an Kämpfen der aufständischen Arbeiter und Studenten teilgenommen hatte. Erschütternd war der Brief Blums an seine Frau, um 5 Uhr morgens am 9. November 1848 geschrieben, eine Stunde vor seiner Hinrichtung.

In die Materialschlachten, das sinnlose Blutvergießen des 1.Weltkriegs führt Bertolt Brechts „Legende von toten Soldaten“. Für den erkrankten Andreas Drinkuth trug Jutta Kneißel dessen Darstellung des 9. November 1918 vor: nach dem Streik der Kieler Matrosen, nach der Aussichtslosigkeit weiterer Kämpfe, die selbst die Oberste Heeresleitung zugab, rief  Philipp Scheidemann vor dem Reichstagsgebäude: „Das Alte ist nicht mehr… Es lebe die deutsche Republik“ und parallel rief Karl Liebknecht vom Portal des Berliner Schlosses die „freie sozialistische Republik Deutschland“ aus.

Philipp Scheidemann: Es lebe die deutsche Republik

 Schon zeigte sich die Spaltung in gemäßigte und linke Kräfte, verschärft durch die aufkommende völkisch-militaristische Bewegung. Wie eine kurze freundliche Vision stand „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, vorgetragen von Kipp und Appel, vor Gabriele Wetzlers ausführlicher Darstellung des Hitler-Putsches 1923 und seiner Niederschlagung vor der Münchner Feldherrnhalle. Mit einem Foto des voll besetzten Bürgerbräukellers am 8. November 2023 schilderte die Sprecherin, wie Hitler mit drohender Schusswaffe die Versammlung betrat, die „Absetzung der Novemberverbrecher in Berlin“ verlangte und scheinbar die Regierungsverantwortlichen wie den Generalstaatskommissar Gustav von Kahr dafür gewann. Aber noch in der Nacht zum 9. November wechselte Kahr die Seiten, schickte die Polizei gegen die Putschisten vor und am 9. November kam es zum Schusswechsel vor der Feldherrnhalle mit 16 Toten. Die Gerichtsverhandlung gegen die Putschisten wurde mit einer geradezu rechtsbeugenden Nachsicht geführt – Kurt Tucholsky schrieb daraufhin das sarkastische Lied „Küsst die Faschisten“.

Noch einmal Glanz der „roaring twenties“ mit Brechts Mackie Messer-Song – dann kam Jutta Kneißel auf die Ermordung Ernst von Raths durch Herschel Grynszpan zu sprechen. Das war geradezu eine Steilvorlage für das NS-Regime, Terror gegen jüdische Mitbürger zu organisieren, als „spontanen Volkszorn“ getarnt. Mit Erlebnisberichten von Carl Zuckmayer und Bernd Engelmann hatte Kneißel eine gute Wahl getroffen. Pandämonium in Wien, deutschlandweite Ausschreitungen immer von örtlich ausgetauschten Gruppen, um jedwede Zurückhaltung, jede „Schwäche“ zu verhindern – ein beklemmend detailreiches Bild entstand. Dann die dunkle Trauer des jüdischen Bittgebets „Avinu Malkeinu“, die leisen, aber abgrundtief traurigen Metaphern von Wystan Hugh Audens „Blues der Flüchtlinge“ – Blick auf das Elend der Vertriebenen und Verfolgten.

„Das Lied ist für Katharina Pipp gemacht“ fand eine Besucherin nach deren hinreißendem Vortrag von „Wind of Change“ der Scorpions. Denn nun berichtete Michael Steig von der Blockade 1948 über den Mauerbau bis zu einem „grauen, langweiligen Spätherbsttagtag“. Es war der 9. November 1989, an dem abends das Unglaubliche passierte: die Mauer fiel, ohne Blutvergießen war Deutschland wieder vereint. Mit „Freiheit“ von Marius Müller-Westernhagen klang der Abend aus.

9. November 1989: Als die Mauer fiel

Text: Kreis Anzeiger 14. 11. 2024